Mittwoch, 27. Juli 2016

Pilze

Pilze lieben sie auch

Die Augen suchend auf den Waldboden gerichtet, hinter jeden Baum guckend, unter jeden Farnwedel spähend. Da, da glänzt etwas leuchtend braun. Nichts wie hin. Gebückt. Berührt. Mist – nur ein Blatt. Enttäuschung.
Zehn Meter neben mir ein unterdrückter Freudenschrei: "Ich habe einen!" "Echt? – Warte ich komme." Sekunden später: "Zeig her! Wow, ist der schön." Die Kappe schön rund und braun, darunter gelbes Futter, kein Schneckenfraß. Ein Braunhedel wie gemalt. "Wo ein Pilz wächst, wächst meist ein zweiter." Wo hat er sich versteckt? Die Suche geht weiter. Jeder von uns möchte den Geschwister-Pilz zuerst entdecken. "Da ist noch einer!" "Hier auch, ein ganz kleiner." "Ich habe ihn zuerst gesehen." "Nein, ich." "Darf ich ihn abschneiden?" Nachdem fünf Quadratmeter Waldboden Zentimeter für Zentimeter gemeinsam sorgfältig abgesucht sind, sucht wieder jeder für sich still, gebückt und konzentriert weiter.
Eine Birke. Ist dahinter vielleicht ein Birkenpilz? Leider nein. Die Augen schweifen weiter. Da: Jede Menge Ziegenbart wächst an einem morschen Ast der am Boden liegt. Da müssen auch andere Pilze sein. Gibt es hier Mooshedel? Ich suche das Moos ab. Nichts? Da hinten sehe ich etwas Rotes. Ich eile hin. Ein wunderschöner Pilz: "Kommt mal her", rufe ich. "Hast Du einen gefunden?", rufen Sie zurück und kommen zu mir. "Seht Euch diesen wunderschönen Fliegenpilz an!" Genervtes Augendrehen. Die Suche geht weiter. Jeder möchte als nächstes einen essbaren Pilz finden. Vielleicht einen Rothedel oder einen Butterpilz oder schöne gelbe Pfifferlinge. Eine Krause Glucke wäre auch toll – die schmeckt so schön nussig. ... "Iiiih eine Stinkmorchel!" höre ich meinen Mann zu unserem Sohn sagen. "Und guck´ mal hier. Das sind Puffpilze. Wenn Du drauftrittst, kommt aus denen eine braune Wolke." Unser Sohn probiert es aus und hat Mega-Spaß. Dann wird weitergesucht. Plötzlich ruft unser Kind ganz aufgeregt: "Ich habe einen! Ist der gut?" "Wir kommen!" Mein Mann und ich rennen fast um die Wette, um seinen Pilz zu begutachten. Wir sehen den Pilz. "Ein Steinpilz!", rufen wir wie aus einem Munde. Sohnemann strahlt. Steinpilze sind die besten Pilze.
Die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Wir müssen zurück. Aber halt – noch einmal hier und da um die Bäume und unter die Sträucher geschaut. Eventuell finden wir noch einen. Pilze sammeln ist wie eine Sucht, vor allem, wenn wir viele finden, wollen wir gar nicht mehr mit dem Suchen aufhören.

Mal sehen, ob es in diesem Jahr wieder sooo viele Pilze gibt, wie 2015.

Passend zum Thema habe ich noch einmal ein Kapitel aus dem Buch "Nahe Ferne" von Marianne Bruns ausgesucht (siehe auch Post "Blumen lieben sie"). Es ist für mich das schönste Kapitel. Die Überschrift lautet: "Pilze".




Pilze

Die Blaubeersträucher sind abgeerntet. Hie und da trägt ein kleiner Busch, an dem die Kinder immer vorübergelaufen sind, noch seine mattblauen Kugeln zwischen den kleinen dichten, rundlichen Blättern. Blaubeerpflücken ist mühsam, selten geht jemand allein. Sie ziehen in Scharen und Trüppchen durch den Forst und rufen einander und schwatzen miteinander und zeigen, wie voll der Krug, wie blau die Finger, wie schwarz die Zähne sind.

Jetzt kommen die Pilze. Pilze suchen – das ist ein ganz anderes Geschäft. Dazu zieht man nicht truppweise aus. Dabei lärmt man nicht. Man vermeidet Begegnungen. Und wenn eine andere Gestalt, wetterfest und derb gestiefelt, in der Haltung eines Suchenden, zwischen den Bäumen auftaucht, so tritt man grußlos beiseite und wartet mit unterdrücktem Unwillen, wohin sie sich wenden und ob sie nicht endlich verschwinden wird.
Dann verliert man sich wieder einsam im dämmernden Wald, zieht ohne Pfad durchs Gestrüpp oder folgt kleinen Stegen und Wildwechseln, und wenn dann, gesucht und doch unversehens, ein brauner Kopf aus Moos und grünen Kleingewächsen sich hervorwölbt, so unterdrückt man einen Freudenschrei, hockt sich schnell nieder und spürt schon beim leichtesten Betasten, ob das Auge getäuscht worden ist oder nicht: Wenn das braune oder rötliche Köpfchen elastisch wippt, wenn es aus einem Stoff ist, der zu brökeln droht bei festerem Zugriff, wenn der Stiel schwankt, wenn die Fingerspitzen ein Hutfutter von Lamellen ertasten – dann ist das kein Steinpilz oder Birkenpilz, kein Rothäuptel und keine Marone, dann ist es eine der vielen, in keinem Pilzbuch verzeichneten Truggestalten, die der Kundige schon von ferne als solche erkennt. Aber er bückt sich zur Sicherheit doch, er tastet nach. Wenn aber der Pilzkopf sich fest anfühlt, nur wenig feucht, mit der Haut eines lebendigen, gesunden Gebildes, die kräftigem, dichtem Fleisch aufliegt, fest auch das Röhrenfutter unterm Hut und fest der dicke Stiel – dann hat man sicher einen guten Fund getan. Dann löst man vorsichtig das kleine, gewichtige Gebilde aus seiner Umwelt. Vielleicht haften ihm noch vermoderte Blätter an. Oder eine Grasfaser spannt sich über den Pilz, der alle Mühe gehabt hat, mit seinem dicken Kopf emporzuwachsen. Manchmal muß er schief herauf, er muß kleine Erdschollen heben und eine Humusschicht durchbrechen, und manchmal hat er Narben von Schnürstellen, wie ein zu eng umwundenes Paket. Aber wenn er nur fest und sauber ist, so ist er immer willkommen!

Warum eigentlich ist die Freude so groß? Gewiß nicht allein des guten Gerichtes wegen, das die Pilze ergeben werden. Wenn eine Nachbarin Pilze bringt, so ist das angenehm, aber nicht angenehmer, als wenn sie frische Bohnen aus dem Garten anbietet. Selber muß man sie finden! Man streift durch den Wald, ob nun die Sonne über den Lichtungen brütet und durch die Bäume spielt oder ob neblige Feuchte zwischen den Stämmen hängt und aus dem Boden dunstet; es mag auch leise regnen. Städtebauer, Motorenbeherrscher, Fernsehende, Luftdurchkreuzer – sind wir das noch? Das liegt weit. Als Pilzsucher tauchen wir tief zurück in vergangene Lebensformen: Der Wald schützt, der Wald nährt. Man muß nur das Auge auf rechte Weise über den Boden gehen lassen. Das Ohr muß wach sein, für den Fall, daß ein Tier durch das Dickicht geht. Alle Sinne müssen gerichtet sein auf Spüren und Finden. Erinnerungsbild und Augenblickseindruck, das rückt blitzschnell zusammen und bewirkt Schreck, Freude, Sich-Verbergen, Sich-Bücken – alles im selben Augenblick. Wegloses Schweifen, kreuz und quer oder tiefer hinein in den Wald ...
Er ist nicht ohne Gefahr: bringt Heilsames hervor, Nährendes, aber auch manches, was schädigt, auch tödliches Gift. Auch Pilze sind giftig. Kennst du sie? Kenne sie.
Pilze sind sonderbar: blühen nicht, haben keine sichtbaren Früchte. Wie vermehren sie sich denn? Nur der Naturkundige weiß von den verborgenen und umständlichen Vorgängen, durch die ihr Geschlecht sich am Leben erhält. Sie schießen ungesehen empor. Bleiben die Kleinen klein? Wachsen sie nach? Langsam oder schnell? Man pflegt sie nicht, man beobachtet sie nicht. Ein Pilz – und man bückt sich und nimmt ihn.

Eine Landschaft ist der Waldboden, so formenreich und farbenstark wie alte Volkskunst. Auf bräunlichem Grunde aus Nadeln, aus Blättern, halb vermodert, zusammengeklebt, aus kleinem Astbruch, aus Borkenteilchen – auf diesem Grund brennt Farbe auf: Verstreute Korallen – das sind die reifen Preiselbeeren mit ihrem harten kleinblättrigen Laubwerk; daneben, ganz anders rot, kühn und grell, ein Pilz, ein Täubling; und scharlachrot ein Büschel von herbstlichen Blaubeerblättern. Dazwischen unscheinbare Lippenblüten in hellem Gelb. Bräunlicher Grund, violetter, namenloser Pilz, Baumstumpf, ein Schuppengebilde von Schwefelfarben daran: Pilzköpfe. Bräunlicher Grund, Farnkrautwedel – gelbgrün; junge Kiefernsprößlinge – blaugrün. Blühendes Heidekraut – ein ganzes Polster in mildem Lilarot. Gras, hart, fein und grün. Brauner, unterwärts zierlich plissierter Pilz. Gelbes Birkenblatt im grünen Grashaar – kein Pfifferling – nur ein Birkenblatt. Moos, plattes, glattes feingebuchtetes Bodengewucher und mittendrin Fliegenpilze, drei, fünf, sechs glanzvolle Kreise von Karmin mit weißlichen Pünktchen.

Und wieder Waldboden, bräunlicher Grund, bräunlicher Pilz, Pilz von schleitigern Lilagrau, Pilz von grünspanüberhauchentem Weiß. Ein grauer Stein, ein gelber Stern ... Die Sonne kommt, eine Abendsonne, die alle Farben mit roter Wärme überströmt. Sie entschärft den Blick. Es sind mehr die Farben, die das Auge sieht: Brauner Grund, grün, gelbgrün, blaugrün, rostrot, purpur, braunrot, grellrot, violett, lila, giftgrün, herbstrot, rot, braun – Braun: ein faustgroßer, sanftgewölbter, trockenhellbrauner Pilzkopf. Das feine Röhrenfutter noch gelbgrünlich und dicht vor lauter Jugend, nur ein wenig weggefressen von einer kleinen Schnecke, die sich fest in ihre Weide hineinbohrt, der Stiel stramm und dick, mit weißbräunlichem Netzgefaser gezeichnet: ein Steinpilz! Der schönste. Der letzte. Dann geht die Sonne unter, und Abendnebel überschwemmen Farben und Formen.

Aus "Nahe Ferne" von Marianne Bruns
(Union Verlag Berlin)